Postkarten aus Turin

Soziale Konsequenzen der Ausgangssperre

Am 10. März wurde in ganz Italien wegen des Coronavirus eine Ausgangssperre erlassen. Nach einem Monat beginnen sich die Konsequenzen dieses Dekrets zu manifestieren. Zu Hause zu bleiben bedeutet nicht für alle dasselbe. Je nach sozio-ökonomischer Situation wirkt sich diese Radikale Veränderung des Alltages anders auf die Personen aus.

Trotz des klaren und deutlichen Aufrufs der Regierung, zu Hause zu bleiben, sind in den unbelebten Strassen der Stadt vereinzelt Leute anzutreffen.

Einige, die gerne zu Hause bleiben würden, jedoch arbeiten müssen, andere die keine Bleibe haben und auf der Strasse leben. Dazwischen Personen mit Einkaufstüten. Der Spaziergang zum Supermarkt ist für die meisten Bewohner der Städte die einzige Möglichkeit, kurz frische Luft zu schnappen und rauszugehen.

Wie lange hält die Bevölkerung jedoch dieser Situation noch Stand? Laut Erhebungen vom ISTAT (Istituto nazionale di statistica) waren im Jahr 2018 20,3% der in Italien wohnhaften Personen (etwa 12.230 Millionen Personen) armutsgefährdet, d. h. sie hatten im Jahr vor der Erhebung ein Nettoeinkommen von weniger als 842 € pro Monat. Dieser Teil der Bevölkerung hat kaum Ersparnisse, um einen weiteren Monat ohne Arbeit auszuharren. Ob die vom Staat versprochene Hilfe rechtzeitig kommt und ausreichend sein wird, ist noch unklar.

«Ich muss raus, sonst drehe ich durch.»

Niccolò hält es nach drei Wochen Ausgangssperre nicht mehr in der Wohnung aus. Wenn ihm die Decke auf den Kopf fällt, geht er skaten. Falls ihn die Polizei anhielte, sagt er, dass er Tabak kaufen ginge. Die wissenschaftliche Zeitschrift The Lancet veröffentlichte im März 2020 eine Studie über die psychologischen Auswirkungen der Coronavirus-Ausgangssperre. Laut dieser kann eine länger andauernde Ausgangssperre, die eine radikale Veränderung unserer Gewohnheiten herbeiführt, psychisch negative Konsequenzen haben. Die am meisten erwähnten Stressfaktoren sind Infektionsängste, Frustration, Schlaflosigkeit, Langeweile, unzureichende Versorgung, fehlende Informationen, Mangel an sozialen Kontakten und finanzielle Verluste.

Wir werden es schaffen!

Da das Zuhause der Familie von Gloria und Marco auf Rädern ist, dürfen sie sich damit bewegen. Raus gehen ist jedoch strengstens verboten, wenn es nicht für den kurzen täglichen Lebensmitteleinkauf ist. Wer sich nicht an die strengen Regeln der Ausgangssperre hält, riskiert eine Busse von mindestens 206 Euro. Das Familienleben zu fünft im engen Wohnmobil wird langsam unerträglich. Die drei kleinen Kinder sind es sich gewohnt, draussen spielen zu können. Durch kleine Gelegenheitsarbeiten Geld zu verdienen, ist für Marco und Gloria nicht mehr möglich. Um genügend Essen kaufen zu können, sind sie gezwungen, vom Fenster aus zu betteln.

Die stille aber präsente Angst des Todes

Der Tod ist eine stille aber präsente Angst. Die Angst, sich oder andere mit dem gefährlichen Virus anzustecken macht, dass die Bevölkerung trotz einer wirtschaftlich immer prekäreren Lage die Ausgangssperre des Staates befolgt. Könnte es sein, dass die ökonomische Not bald grösser wird als die Angst? Es gibt bereits an die Regierung adressierte Videos in den sozialen Netzwerken, die mit kollektiven Raubüberfällen von Supermärkten drohen, falls die vom Staat versprochene Unterstützung bis Mitte April nicht kommt.

#Ich bleibe zu Hause

Nicht alle können zu Hause bleiben. In Turins Laubengängen haben viele Obdachlose ihr Lager aufgeschlagen. Obwohl in diesen Tagen öfter als sonst Nachbarn vorbeikommen, um Decken oder einen warmen Teller Pasta vorbeizubringen, sind sie besorgt. Der Staat kümmere sich nicht um ihre Gesundheit. Nur ab und zu taucht die Polizei auf, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. In den ersten Tagen seien sie noch von der Polizei aufgefordert worden nach Hause zu gehen. «Wo sollen wir denn hingehen? Das hier ist unser Zuhause.» Sagt Francesco empört.

Wir wollen wegen einer Pizza nicht krank werden!

Turins Velokuriere müssen trotz Ausgangssperre weiterhin arbeiten. Wegen weniger Lieferungen sinkt der Lohn drastisch. Die Angst, sich oder einen Kunden mit dem Covid-19 Virus anzustecken, ist gross. Sie protestieren während der Direktschaltung der Regionalnachrichten und fordern von der Regierung umgehend, dass die Kurierdienste per Dekret eingestellt und die Riders mit denselben Massnahmen unterstützt werden, wie andere selbstständig Erwerbende. Da ihre Arbeit von der Regierung als wesentlich angesehen wird, sollte sie auch als solche anerkannt und angemessen bezahlt werden.

Eine Fotoreportage
von Davide Tisato
davide@tisato.com
© Davide Tisato