Postkarten aus Turin

Soziale Konsequenzen der Ausgangssperre / Teil 2

Die Zeit scheint während der seit dem 10. März anhaltenden Ausgangssperre still zu stehen. Zumindest haben viele schon seit einer Weile aufgehört, die Tage und Wochen zu zählen. Seit Mitte April nehmen zum Glück in Turin die Neuansteckungen ab. Mit ihnen auch, bei vereinzelten Personen, die Angst daran zu erkranken. Es scheint, als ob das Schlimmste überstanden wäre; auf gesundheitlicher Ebene zumindest. Obwohl die Sanktionen für Verstösse gegen die Ausgangssperre auf mindestens 400 Euro Busse pro Person gestiegen sind, lockt der Frühling langsam die Leute auf die Strasse. Einige Familien mit Kindern riskieren einen Spaziergang am wenig kontrollierten Ufer des Pò im eher wohlhabenden Stadtzentrum.

Spontane Protestaktionen

Nicht in allen Stadtteilen ist die Lage so ruhig. Unter Buhrufen von an den Fenstern stehenden Nachbarn wurden sechs Passanten gewaltvoll verhaftet, weil sie die Ausgangssperre nicht respektiert haben. Danach besetzten die Anwohner die Strasse, um mit einem Megafon ihre Unzufriedenheit und Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Die Spannungen zwischen Ordnungskräften und einem Teil der Stadtbevölkerung steigt. Die ökonomische Situation vieler Bewohner wird immer prekärer.

Schlange am Pfandhaus

Bei Tagesanbruch stehen die Leute schon am Hintereingang des prunkhaften Gebäudes der mächtigen turinesischen Bank «Intesa San Paolo» Schlange. Eine Stunde vor der Öffnung sind es schon mehr als 30 Personen. Verzweifelt verpfänden sie ihre persönlichen Schätze, in der Hoffnung, so mit einem von der Bank erhaltenen Kredit den gegenwärtigen ökonomischen Engpass zu überwinden. Das von der Bank geliehene Geld entspricht ungefähr 75% des Realwertes der verpfändeten Gegenstände. Zudem muss es innerhalb von sechs Monaten mit einem Zins von 6.5% zurückbezahlt werden. Falls dem nicht so ist, wird das verpfändete Objekt versteigert. Am Eingang der Gasse steht ein Mann, der den Leuten für ihre Habseligkeiten ein besseres Geschäft verspricht als die Bank.

Tragische Nebenwirkung der Ausgangssperre

Während des ersten Monates der Ausgangssperre, zwischen dem 2. März und dem 5. April, steigerten sich nach einer Studie des D.i.R. Netzwerks (Donne in Rete contro la violenza) die Anfragen um Hilfe wegen genderspezifischer häuslicher Gewalt um 75 Prozent im Vergleich zum Monatsdurchschnitt des Vorjahres. Bei 806 dieser Fälle (28 Prozent) handelt es sich um eine Erstanfrage.

Solidaritätskörbe

Gegenüber der oft unzureichenden Hilfe des Staates wächst die Solidarität zwischen der Stadtbevölkerung. Von mehreren Balkonen hängen Körbe mit der Botschaft: «Wer kann, lege rein. Wer nicht kann, nehme raus.» Viele Leute schämen sich, um Hilfe zu bitten. Dieses System garantiert ihre Anonymität. Die Initiative kommt aus Neapel und hat sich schnell in anderen Städten Italiens verbreitet.

Gewaltvolle Polizeipräsenz

Spontane Protestaktionen oder im Geheimen geplante Kundgebungen nehmen von Tag zu Tag zu. Jedoch werden sie umgehend von der Polizei im Keim erstickt. Über die fast täglichen Aktionen wird in den öffentlichen Medien kaum berichtet. Fürchtet sich der Staat, dass solche Funken einen Flächenbrand provozieren könnten? Zum Glück werden die oft unangemessenen, gewaltvolle Eingriffe der Ordnungskräfte von den Balkonen und den Fenstern aus gefilmt und auf den Social-Medias verbreitet.

1. Mai

Wegen der aktuellen Massnahmen haben sich die Arbeitsbedingungen für fast alle Personen drastisch verschlechtert. Viele fürchten am Arbeitsplatz um ihre Gesundheit. Andere möchten gerne Arbeiten, dürfen aber nicht. Lohnausfall und Arbeitsverlust drängen viele in eine ökonomische Notlage. Trotz Ausgangssperre und Versammlungsverbot finden in ganz Turin mehrere Aktionen statt. Chöre infiltrieren sich in die Schlangen vor den Supermärkten und singen Arbeiterlieder, Gesundheitspersonal hält am Eingang der Spitäler schweigend ihre Slogans in die Luft, Schauspielerinnen tragen in der Altstadt kritische Monologe vor und die Velokuriere rasen in drei grossen Gruppen durch die Stadt und schreien «Streik! Streik! Streik!» in ihre Megafone. Unerwartete und vergängliche Aktionen, die sich im Raum bewegen und so der Repression entwischen.

Die «Normalität» als Problem

Die Ansteckungskurve sinkt von Tag zu Tag. Am 4. Mai beginnt die sogenannte Phase 2, in der die Ausgangssperre Schritt für Schritt gelockert wird und die italienische Regierung das Land langsam zur «Normalität» zurückzuführen versucht. Macht es jedoch Sinn zu dieser «Normalität» zurückzukehren, wenn genau diese den Acker für die katastrophalen Auswirkungen des Sars-Co2-Virus vorbereitet hat? Sparmassnahmen im öffentlichen Gesundheitssystem sind mitverantwortlich für die grosse Anzahl Toter in Italien. Ein Team von Wissenschaftlern der SIMA (Società Italiana di Medicina Ambientale) hat festgestellt, dass «Feinstaubpartikel nicht nur Träger sind, sondern dem Virus auch ermöglichen unter lebensfähigen Bedingungen für einige Zeit in der Luft zu bleiben. Dabei kann es sich um Stunden oder Tage handeln. Die pandemiehafte Ausbreitung des Virus in Norditalien hängt deshalb höchstwahrscheinlich mit der Luftverschmutzung durch Feinstaubpartikel zusammen.» Vielleicht wäre es sinnvoller, unsere Produktionssysteme und die sozialen Strukturen kritisch zu hinterfragen und Änderungen vorzunehmen, anstatt zur «Normalität» zurückzukehren.

Eine Fotoreportage
von Davide Tisato
Soziologe und Dokumentarfilmer
davide@tisato.com
© Davide Tisato